Die Geschichte vom Krokodil
Auszug aus einer Rede von Dr. Klaus Peters, einem Philosoph aus Köln:
Allgemein geht es bei der Führung darum, dass Menschen versuchen, andere
Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was sie die Führungspersönlichkeiten
wollen. Da das eine sehr komplizierte Sache ist, will ich sie an einem ganz
einfachen Modell erklären.
Nehmen wir an, ein Mitarbeiter soll dazu gebracht werden, von Punkt A nach
Punkt B zu gehen, weil die Führungskraft es so will. Wie ist das zu
erreichen? Das einfachste und seit Jahrtausenden bekannte Mittel ist das
Aussprechen eines Befehls:
Geh von Punkt A nach Punkt B! Von dem Mitarbeiter wird erwartet, dass er
gehorcht und sich an die Weisung hält. Hier aber zeigt sich zugleich die
Schwachstelle eines solchen Befehls: Denn was macht die
Führungspersönlichkeit, wenn der Mitarbeiter sagt: Nein, ich bleibe bei
Punkt A stehen?
Ein richtiges Führungssystem, das auf einem Befehl basiert, muss dafür eine
Antwort parat haben. Es muss demjenigen, der den Befehl gibt, eine bestimmte
Reaktion auf dieses Nein erlauben, beispielsweise eine Strafandrohung
auszusprechen:
Wenn du dies nicht tust, dann folgt dieses oder jenes. Das nennt man dann
Zwang.
Es gibt neben Befehl, Gehorsam und Zwang noch ein viertes Moment, das zu
diesem Führungssystem gehört: die Kontrolle. Denn wenn derjenige, der den
Befehl gibt, hinterher nicht nachschaut, ob dieser auch tatsächlich
ausgeführt worden ist, ist dies so gut, als wäre der Befehl gar nicht
gegeben worden.
Paradebeispiele für dieses Führungssystem findet man beim Militär bis hin
zur expliziten Todesdrohung: Für den Fall, dass du den Befehl nicht
befolgst, wirst du erschossen. Wir können dieses ganze System daher auch das
System "Pistole" nennen oder in der Managementsprache "Command and Control".
Da wird zwar nicht mit Erschießung gedroht, sondern nur mit Entlassung. Das
Prinzip aber ist dasselbe.
Wir sind dieses System so gewohnt, dass wir Führung häufig unmittelbar damit
identifizieren. Wir denken, wenn Befehl und Gehorsam wegfallen, dann bricht
die Anarchie aus, dann kann sofort jeder tun und lassen, was er will. Aber
dies ist ein grundlegender Irrtum. Führung ist auch möglich ohne Befehl,
ohne Gehorsam, ohne Zwang und ohne Kontrolle. Dies möchte ich an einem
weiteren Beispiel erläutern.
Krokodil versus Pistole
Wiederum geht es um die Frage: Wie kann ich einen Menschen dazu bringen, von
Punkt A nach Punkt B zu gehen aber diesmal ohne Pistole?
Nun, indem ich mir etwas Neues besorge: ein Krokodil.
Das Krokodil erlaubt mir, meinem Mitarbeiter zu sagen: Ab sofort kannst du
tun und lassen, was du willst. Dass er den Punkt B erreichen soll, muss ich
ihm nicht einmal verraten. Ich platziere lediglich das Krokodil am Punkt A.
Und zusätzlich arrangiere ich die Rahmenbedingungen so, dass der
Mitarbeiter, wenn er sich vor dem Krokodil retten will, zwingend zum Punkt B
laufen muss. Dann schaue ich zu, was passiert.
Ich habe ein sehr großes Vertrauen, dass der Mitarbeiter, so schnell er
kann, zum Punkt B laufen wird. Dieses Modell könnte man das "Modell
Krokodil" nennen.
Unter Sozialwissenschaftlern, auch unter Gewerkschaftern und Betriebsräten,
gibt es nun eine gewisse Versuchung zu fragen: Wo ist denn da der
Unterschied? Schauen wir einmal genau hin:
Es beginnt schon damit, dass der Mitarbeiter im Fall "Krokodil" schneller
läuft als im Fall "Pistole. Das ist eine der großen Quellen des
Produktivitätsgewinns, den dieses Modell erzielt. Damit aber noch nicht
genug. Was das Modell "Krokodil" gegenüber dem Modell "Pistole" zusätzlich
auszeichnet, wird sofort deutlich, wenn man sich vorstellt, der Mitarbeiter
trifft zwischen A und B auf ein Hindernis, beispielsweise auf eine Wand.
Im Modell "Pistole" sieht er die Wand und sagt: Lieber Himmel, der Befehl
ist gar nicht ausführbar, der Kommandeur wusste offensichtlich nicht, dass
hier eine Wand steht. Ich bin daher berechtigt, auf die Ausführung des
Befehls zu verzichten, gehe zurück und beschwere mich über diesen
unausführbaren Befehl.
Was passiert im Modell "Krokodil? Ich muss es nicht weiter ausmalen: Der
Mitarbeiter ist in einer Situation, in der er um sein Leben kämpft. Er wird
um jeden Preis versuchen, die Mauer zu überwinden, egal wie hoch sie ist. Er
wird von einer panischen Angst getrieben sein: Er muss schließlich über
diese Mauer irgendwie rüber. Dieses "Müssen" kann man als eine "echte
Vertrauensbasis" bezeichnen. Sie liegt auch der Vertrauensarbeitszeit
zugrunde, die aus meiner Sicht nur eine Erscheinungsform dieser auf dem
Modell "Krokodil" basierenden Organisationsstrukturen in den Unternehmen
ist.
Es gibt aber noch einen weiteren Unterschied zwischen dem Modell "Pistole"
und dem Modell "Krokodil". Derjenige, der mich mit der Pistole bedroht für
den Fall, dass ich seinen Befehl nicht befolge, will mich nicht erschießen.
Er möchte lediglich, dass ich zum Punkt B laufe. Er droht die Erschießung
nur an für den Fall, dass ich mich weigere.
Das Krokodil aber will nicht, dass ich zum Punkt B laufe, sondern es will
mich fressen mit dem Ergebnis, dass ich zum Punkt B laufen will. Das ist das
Verrückte dabei: In dem Modell "Krokodil" will nicht jemand etwas von mir,
das ich gar nicht will. Sondern ich tue etwas, weil ich es will. Ich will zu
Punkt B. Das Krokodil versucht zu verhindern, dass ich Punkt B erreiche. Ich
setze mich also mit meiner eigenen Selbstständigkeit, mit meinem eigenen
Willen dafür ein, dass ich den Punkt B erreiche.
Darum ist dieses System so enorm effizient und viel produktiver als das
Modell "Pistole°. Die Gefährlichkeit für den Einzelnen besteht beim Modell
"Krokodil" darin, dass wir es hier mit einem realen Selbstständigkeitsgewinn
zu tun haben.
Jeder Betriebsrat, der in einer solchen Situation einzugreifen versucht, um
den Betreffenden vor Gefahren zu schützen, merkt das sofort: Im Modell
"Krokodil" schlägt der Mitarbeiter zurück, wenn ihn jemand daran hindert,
vor dem Krokodil wegzulaufen. Er verteidigt sich gegen die Intervention,
auch wenn sie seinem eigenen Schutz dient. Er sagt: Du kannst mir noch
tausendmal sagen, dass ich nicht endlos zu arbeiten brauche aber was mache
ich mit dem Krokodil? Das ist mein Problem. Und dieses Problem muss ich
lösen. Daran ändert das Arbeitszeitgesetz, die Betriebsvereinbarung nichts.
Die Betriebsräte geraten in eine zunehmende Konfrontation mit der
Belegschaft, mit Mitarbeitern, deren Interessen sie zu vertreten versuchen.
Das zeigt deutlich, welche Gestalt die Selbstständigkeit in der Arbeit hier
annimmt.